TO THE POINT
Kollektiver Gedächtnisverlust

KOLLEKTIVER GEDÄCHTNISVERLUST

Erstabdruck Schweizer Bank 07/1999

Chancen und Gefahren von Strukturänderungen in Firmen

Heutzutage wird es immer schneller notwendig sich neuen Marktgegebenheiten anzupassen, eine Fusion durchzuführen um die Position im Markt ausbauen oder halten zu können, von neue Technologien zu profitieren etc. Jeder verantwortlich handelnde Verwaltungsrat oder Manager stellt sich früher oder später die Frage: Wie kann ich meinem Unternehmen zu mehr Marktsegment, Umsatz und Gewinn verhelfen. Eine mehr oder weniger umfassende Umstrukturieren wird ins Auge gefasst; meist mit dem Zweck die ständigen Unkosten zu senken.

Gerade bei Dienstleistungsunternehmen sind Mitarbeiter eines der wichtigsten Produktionsmittel. Naheliegend und häufig am Schnellsten und Einfachsten scheint es, die Anzahl Mitarbeiter zu reduzieren. Das ist aber auch die kurzsichtigste Massnahme und zahlt sich höchsten sehr kurzfristig aus. Das Ziel der Umstrukturierung ist ja eine Anpassung der Firma und meist auch der Produktionsmittel, sprich Maschinenpark, Computer und Mitarbeiter an neue Anforderungen. Nicht alle herkömmlichen Produktionsmittel werden im neuen Konzept wieder Platz finden. Ein Teil der entlassenen oder frühzeitig pensionierten Mitarbeiter wird von neuen Kräften ersetzt die über ein anderes Talentprofil verfügen. Bei Computern ist es gang und gäbe ein Update vorzunehmen. Warum nicht auch bei Mitarbeitern?

Mitarbeiter als Manövriermasse oder erfahrene Partner?

Viel wird von Kommunikation gesprochen und gemeint ist: Verkündung von gefassten Beschlüssen. Die neuesten Studien zur Qualitätsverbeserung wie zum Beispiel Baldrige, zeigen jedoch deutlich, dass die erfahrenen Mitarbeiter am besten wissen, wie man Abläufe optimiert und schlanker macht, wie Verbesserungen angebracht werden können und wo Einsparungen möglich sind. Bei einer Neuausrichtung der Firma jedoch, wird vielfach allein auf oberster Ebene entschieden. Das hat zwangsläufig eine Verunsicherung und De-Motivation der Mitarbeiter und Kaderleute zur Folge, am schlimmsten trifft es jeweils diejenigen die schon viele Jahre dem Unternehmen treu gedient haben und von den neuen Gegebenheiten auf dem falschen Fuss erwischt werden, da sie mitten in der Ausübung ihrer hergebrachten Pflichten von den meist radikalen Änderungen betroffen werden.

Am einfachsten ist es da, die "eingefahrenen" Mitarbeiter raschmöglichst durch dynamische junge Hochschulabsolventen mit ausgezeichnetem Schulsack aber wenig bis keiner Erfahrung auszutauschen solange die Firma im Job-Markt noch einen einigermassen intakten Ruf hat. Aber zu welchem Preis...?

Mutation und Evolution
Mutationen kommen in der Natur hin und wieder vor, treten plötzlich auf, sind rein zufällig, radikal, und gehorchen keinem Gesetz. Sie können  einen Quantensprung vorwärts bedeuten, völlig bedeutungslos wieder verschwinden oder eine ernst zu nehmende Bedrohung darstellen. Evolution hingegen braucht Zeit, kann teilweise gesteuert werden und ist bedingt planbar und meist nachhaltiger Natur


Ein radikaler Ersatz erfahrener und bewährter Mitarbeiter mit neuen Kräften gleicht einer Mutation und kann böse ins Auge gehen. Viel erfolgversprechender ist eine sanfte Renovation des Mitarbeiterbestandes mit neuen Kräften und neuem Wind, aber auch einer Neu-Orientierung und Weiterbildung bzw. Umschulung bewährter Leute. Schliesslich haben sie manches Jahr erfolgreich ihre Position ausgefüllt und warum sollen diese Stützen der herkömmlichen Firma nicht lernfähig und - willig sein. Manchen eingefahrenen Mitarbeitern in der Mitte des Lebens bringt eine neue Herausforderung wieder neuen Elan und Schub mit dem grossen Vorteil, dass die wertvolle, langjährige Erfahrung dem Betrieb erhalten bleibt, eine Evolution eben.

Ein Verlust langjähriger Erfahrung und Wissen führt zu grotesken Auswirkungen:
So hat eine Firma die Human Resources Funktion zu einem grossen Teil ausgewechselt und mit ausländischen Kräften besetzt, die auf ihrem Gebiet Hervorragendes leisteten, jedoch keine Ahnung von lokaler Gesetzgebung, Gepflogenheiten und Landessprachen hatten. In Unkenntnis wurden wichtige Akten vernichtet und plötzlich war alles historische Wissen weg. Sensitive Korrespondenz in der Landessprache wurde nicht als solche erkannt und offen mit der internen Post im Betrieb weitergeleitet, und Vertrauensleute aus dem Betrieb um Hilfe angegangen. Projekte wurden angegangen die die alte Crew bereits evaluiert hatte und entweder als nicht durchführbar eingestuft hatte, oder bis zur Einführung pendent hielt. Das Rad wurde wieder einmal neu erfunden. Ein totaler Gedächtnisverlust in HR Materie war eingetreten.

Neuronales Netz

Die Vernetzung ist die Tragfläche in allen Gesellschaften. Es basiert auf gegenseitigem Vertrauen, Verständnis und ähnlich gelagerten Interessen. 

Ein Netzwerk gleicht dem neuronalen Netz im Gehirn, das wichtige Informationen weitergibt, Warnungen vermittelt, Erfahrungen speichert und auswertet, Schlüsse zieht und den Menschen zum mündigen Handeln befähigt.

Am besten bekannt ist bei uns das informale Netzwerk gesponnen während des Militärdienstes, in der Schule, beim Sport, der Politik oder in anderen Interessengemeinschaften. Wieviele Entscheide auf höchster Ebene werden nach Beratungen im persönlichen Beziehungsnetz getroffen? Die Qualität der Beziehungen ist dabei von entscheidender Bedeutung. Schliesslich fragt man keinen 20ig jährigen nach seinen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Altersfürsorge oder dem zweiten Weltkrieg. Er wäre jedoch der richtige Ansprechspartner für Fragen ums Internet, neuen Technologien, neu auftauchenden Trends etc. 

Motivation zukünftiger Keyplayer

Verunsicherung und De-Motivation sind meist das Resultat von mangelhafter Kommunikation. Schlechte Führungsqualitäten und zuwenig oder keine Kontrolle von nächsthöherer Stelle ist eine zweite Quelle. Mobbing kann ein Auswuchs dieser Führungsschwächen sein. Die betroffenen Mitarbeiter werden dabei teilweise so hart getroffen, dass Ihre Gesundheit, ihr Familienleben und ihre Lebensfreude stark darunter leiden. Als Auswirkung kann das Burn-Out Syndrom beobachtet werden, die interne Kündigung, ein Zerfall der Persönlichkeit und Zweifel an den eigenen Fähigkeiten eintreten. Die Folgen für den Betrieb sind verheerend. 

Hunderte von Arbeitsstunden werden mit Spekulieren, Klatschen und Weiterleiten von Halbwahrheiten verbracht. Eine laisser-faire Mentalität führt zu vermehrten Fehlern bei der Arbeit, einem Berg von nicht erledigten Aufgaben, richtigen und pseudo-Krankheitsabsenzen, vernachlässigten Kunden oder desavouierten Kollegen. Ein Kompensationsgedanke wie: "Die Firma schuldet mir das", kann auch zum Missbrauch von Spesenabrechungen, Firmenmaterial, privaten Telephongesprächen oder schlimmstenfalls einem Griff in die Kasse führen. Vielseitig dokumentiert sind auch "Sollbruchstellen" bei der Arbeit. Das können programmierte Computerfehler, mutwillige Fehler bei Finanzzahlen, Arbeitseinteilungen, Kundendaten etc., gezielte Fehlinformationen oder absichtlich schlechter Kundenservice sein. Neue Mitarbeiter werden nicht, oder nur mangelhaft eingeführt. 

Verunsicherte Mitarbeiter wagen keine Risiken mehr und verpassen dadurch manche Chance für einen guten Abschluss. Kritik an Abläufen, auch berechtigte, und Verbesserungsvorschläge werden nicht mehr geäussert, da man seinen Kopf möglichst tief hält und nicht auffallen will. Das ungewollte Risiko für die Firma steigt an. Fehler werden vertuscht und tauchen später als Leichen im Keller wieder auf. Misstrauen und Vorsicht ersetzen das frühere Vertrauen, die alten Ehrenkodex wie mündliche Abmachungen gelten nicht mehr. Alles wird fein säuberlich dokumentiert als "Cover your Ass" Garantie und kostet weitere Arbeitszeit.

Die De-Motivierung hat einen nachhaltigen Effekt. Jahrelanges Vertrauen wurde innert weniger Tage oder Wochen zerstört und es braucht wiederum Jahre bis es wieder einigermassen hergestellt ist. Besonders schlimm ist es, wenn gut angesehene und erfolgreiche Kollegen betroffen sind. Das Zeichen das dabei vom Rest der Belegschaft verstanden wird ist: "Wenn es sogar sie/ihn trifft, wer ist dann noch sicher? Was für Leistungsmasstäbe gelten in Zukunft noch? Werden Mitarbeiter wirklich objektiv bewertet?" Die neu hinzukommenden Mitarbeiter bemerken sehr schnell wie der Hase läuft und verhalten sich selber für eine Zeitlang sehr vorsichtig. Die Firmenführung muss sich enorm anstrengen um wieder glaubwürdig zu werden.

Die Attraktivität der Firma auf dem Jobmarkt nimmt ab, da sich der Begriff "Hire and Fire" mit dem Namen der Firma verbindet. Die besten Kräfte werden es sich mehrmals überlegen, ob sie ihr berufliches Schicksal mit demjenigen einer so unberechenbaren Firma in Verbindung bringen wollen. Solange die Auswahl an guten Arbeitgebern auf dem Markt überwiegt, wird eine "Hire and Fire" Firma nicht mehr die besten Mitarbeiter anziehen können und für diejenigen die das Wagnis trotzdem eingehen wollen, muss eine Prämie bezahlt werden.

Die Kosten für die Firma sind nicht genau quantifizierbar, gehen aber je nach Grösse in die zig-Millionen. 

Bei einer Firma mit ca. 100 betroffenen Mitarbeitern die 10 % ihrer Mitarbeiter auswechseln will, belaufen sich die vermeidbaren Unkosten schnell über CHF 5 MM ohne die langfristigen Folgekosten zu bedenken.

Die vielzitierten tieferen Löhne und Sozialkosten von den neuen jüngeren Mitarbeitern können diesen Fehlbetrag ein keinstem Falle auch nur annähernd aufwiegen.

Umschulung

Es ist nicht einzusehen warum gute, bewährte Mitarbeiter die bewiesen haben dass sie leistungsfähig und willig sind, plötzlich nichts mehr wert sein und nicht in neue Strategien einbezogen werden sollen. Ein offener Dialog auf allen Ebenen bringt Klarheit über die neuen Anforderungsprofile und die Erwartungen der neuen Führungscrew. Dagegen werden die Talente und die erworbenen Kenntnisse der bewährten Mitarbeiter gestellt und dabei die Lücken aufgedeckt. Die meisten Firmen haben zwar eine Liste der Kurse die die Mitarbeiter während der Dienstzeit in der Firma absolviert haben und der Kenntnisse die bei Einstellung vorhanden waren, nicht aber der am Arbeitsplatz erworbenen Fähigkeiten und Erfahrungen. 

Die mitgebrachten, erworbenen und erlernten Kenntnisse müssen erfasst werden. Offenheit und Ehrlichkeit auf beiden Seiten sind die Grundlagen zum Erfolg. Vertrauen zwischen Mitarbeitern, Vorgesetzten und HR Funktion sind dabei Bedingung.

Natürlich hat dieses System auch seine Limiten. Es wird kaum zweckmässig sein einen Spezialisten, der keine Menschenführungsfähigkeiten besitzt und nicht sehr kommukationsfähig und dialogbereit ist, auf eine Team-Leader Funktion umschulen zu wollen. Gewisse Talente in der geforderten Sparte müssen schon vorhanden sein damit man sie fördern kann.

Die Vorteile der Umschulung liegen auf der Hand und sind unbezahlbar. Bewährte Kräfte bleiben erhalten und werden zum Teil neu motiviert. Sie dienen als Vorbild für die restlichen Mitarbeiter und zeigen, dass sich die Firma die Mühe nimmt vergangene  Leistung anzuerkennen indem in diese Mitarbeiter investiert wird. Neue Mitarbeiter sehen sich in der Wahl eines guten Arbeitgebers bestätigt und die Firma geniesst einen Ruf als fortschrittlicher Arbeitgeber was die Suche nach Spitzenkräften enorm erleichtert und verbilligt.

Die Firma senkt die Unkosten, da nicht so viele Anstellungskosten, Outplacementhonorare und Abschiedspakages oder Zuschüsse an die Pensionskasse bezahlt werden müssen. Dagegen sind die Umschulungskosten aufzurechnen. Die übernommenen Mitarbeiter bleiben leistungsfähig und die neuen Mitarbeiter können von einem positiven Klima profitieren und werden schneller rentabel. Der Reingewinn wird steigen.

Shareholdervalue ja, aber nachhaltig

Wir alle sind an einer gesunden Wirtschaft mit guten Unternehmensgewinnen und attraktiven Aktienwerten interessiert. Unsere Pensionskassen und neuestens auch die AHV, bauen darauf, ganz zu schweigen von unseren privaten Spargeldern. Gesunde Unternehmen sind auch das Rückgrat unseres Sozialfriedens. Restrukturierungen müssen sein und haben meist auch ihr Gutes. Was aber auf keinen Fall zu begrüssen ist, sind Kurzsichtigkeit und Kurzfristigkeit im Denken. Führungskräfte werden eingeflogen oder eingesetzt um schnell einen Erfolg zu erzielen und werden dann mit saftigen Boni oder Aktien-Optionen belohnt. 

Viele sogenannte Sanierer sind nach 2 bis 3 Jahren wieder anderweitig eingesetzt und haben sich nicht mehr für die  Konsequenzen ihrer Handlungen zu verantworten. So wird in regelmässigen Abständen die Kultur, das Netzwerk und das kollektive Gedächtnis ausgewechselt

Die vielen kurzfristigen Erfolge aneinandergereiht lassen die Ergebnisse wie ein langfristiges gesundes Wachstum der Firma aussehen. Über kurz oder lang wird das zum Debakel führen.

Dass diese Strategien nicht unendlich weitergehen können ist absehbar. Es wird ein Umdenken stattfinden müssen wobei sich die Firmen wieder auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren werden und dabei sowohl auf Erfahrung, gute Menschenführung und bewährte Netzwerke als auch neue Techniken, Technologien und moderne Erkenntnisse setzten werden.

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